Was wir brauchen, um zu werden, wer wir sind

Warum unsere Jugendlichen für die wahre Entfaltung ihres Potentials mehr als die Freiheit von Notendruck oder Stundenplänen brauchen - Oder: Warum Bindung der Schoss für unsere zweite Geburt ist

Für mich der Inbegriff puren Potentials: Die «Pfeiler der Schöpfung», so wie das James Webb Weltraumteleskop sie im sogenannten Adlernebel fotografiert hat (Quelle: NASA, November 2022)

Das individuelle Potential entfalten, die Einzigartigkeit bewahren, die Berufung oder zumindest ein Herzensprojekt finden, schlicht: Herausfinden, wer frau wirklich ist und wofür man brennt – diese Beweggründe und Wünsche treiben immer mehr (Homeschooling-)Eltern an und sie stehen hinter zahlreichen neu gegründeten Lernorten und Initiativen wie bspw. dem Magic Campus.

Was aber brauchen wir, um zu werden, wer wir sind – um unser ureigenstes Potential zu entfalten, unsere Einzigartigkeit zum Strahlen zu bringen und unserer Berufung zu folgen?

Diese Frage treibt mich seit langem um. Denn warum hier und heute, wo wir nicht mehr ums Überleben kämpfen müssen wie unsere Vorfahren im Mittelalter, wo wir uns die Abhängigkeit von Grossfamilien oder Gemeinschaften abtrainiert und «hinderliche» Care-Arbeiten outgesourct haben, wo die Optimierung des Selbst ebenso zum Zeitgeist gehört wie das Mantra des «Anything goes», wo alles pluralistisch und neuerdings auch fluid ist… Warum also in unserem heutigen options-schwangeren Umfeld immer noch so viele im Mainstream mitschwimmen und/oder in dumpfen Jobs landen (wunderbar ausgeleuchtet in der Arte-Dok »Arbeit ohne Sinn»), das ist doch schon erstaunlich, oder nicht?

Diese Frage treibt auch Bodo Wartke um - und er beschreibt das in seinem Lied «…was, wenn doch?» so viel eindrücklicher als ich das kann…

 
 

Mir ist bewusst, dass diese Frage eine der ganz grossen Fragen ist und dass wir sie durchaus noch grösser fassen und bspw. transgenerationale Themen oder auch spirituelle Betrachtungen miteinfliessen lassen können - was ich sehr spannend und bereichernd finde.

Und ja, natürlich finden unsere Kinder und Jugendlichen in unserem Schulsystem mit dem starren und rappelvollen Stundenplan, dem Notendruck und der Learning-to-the-test-Ausrichtung kaum die Möglichkeit, um zu entdecken, was in ihnen steckt, aber:

Unsere Kinder und Jugendlichen brauchen mehr als die Freiheit von Stundenplänen oder Notendruck und mehr als individualisiertes Lernmaterial!

Mir hat erst der Blick durch die Brille des bindungsbasierten Entwicklungsansatzes eine Antwort-Dimension aufgespannt, die Sinn macht und auf der aus meiner Sicht alle anderen Erklärungsansätze aufbauen. Und der Kern der Antwort ist erstaunlich simpel:

Um zu werden, wer wir sind, muss unser grundlegendstes Bedürfnis gestillt sein. Wenn es das nicht ist, müssen wir erst alles unternehmen, um es zu befriedigen, erst dann können wir uns anderem widmen - ganz ähnlich wie bei einem vor Hunger knurrenden Magen.

Für uns ist Bindung unser grundlegendstes Bedürfnis - also unser Streben danach, gleich zu sein, dazu zu gehören, wertgeschätzt, gemocht, geliebt oder wirklich gesehen zu werden. Und das heisst: Erst wenn wir «bindungssatt» sind, sind wir frei zu werden, wer wir sind.

Oder aus der Perspektive von uns Erwachsenen:

Erst wenn der Bindungshunger unserer Kinder & Jugendlichen gestillt ist und sie nicht mehr für die Befriedigung ihres grundlegendsten Bedürfnisses arbeiten müssen, können sie ihre Ressourcen einsetzen um herauszufinden, wer sie sind, zu was sie berufen sind und wie sie das Licht in ihnen in die Welt tragen und zum Ausdruck bringen können.

Das vierte Trimester und Bindung als Schoss

Für unsere Kinder & Jugendlichen ist es ganz grundlegend, dass wir Erwachsenen ihren Bindungshunger stillen und dass wir die Befriedigung ihres Grundbedürfnisses weder Gleichaltrigen («Peers»), Social Media, Influencern, Games oder ähnlichem überlassen. Oder in den Worten von Gordon Neufeld:

Unsere Kinder brauchen nach den drei Trimestern der Schwangerschaft und nach der physischen Geburt ein weiteres viertes Trimester und Bindung ist dabei der Schoss:

So wie wir den Bindungs-Schoss über viele Jahre und Bindungs-Stufen hinweg aufbauen (unter günstigen Umständen gelingt das in den ersten sieben Lebensjahren), erstreckt sich das vierte Trimester über mehrere Jahre und führt erst zum Ende der Adoleszenz zur Geburt einer individualisierten Persönlichkeit.

Die untenstehende Abbildung verdeutlich - angelehnt an das Prinzip der Babuschkas - die Wichtigkeit einer tiefen und sicheren Bindung für die Entfaltung unseres Potentials. Sie zeigt auf, wie jede der sechs Bindungsstufen einen weiteren Potentialraum erschliesst (mehr zu den Bindungsstufen findest du hier im Video oder hier ausformuliert).

  • Wenn ein Kind oder Jugendlicher nur die ersten zwei oder drei Bindungsstufen erreicht, dann ist der Schoss, der ihm für die Entfaltung des Selbst zur Verfügung steht, ein sehr enger: Er oder sie muss gleich sein wie die anderen und/oder sicherstellen, dass die Zugehörigkeit und Loyalität zur Gruppe nicht gefährdet ist - das kann ebenso die Clique wie die Familie sein: Der Teenie muss dann cool finden, was bei den Gleichaltrigen angesagt ist, oder aber bspw. in die Schuhstapfen des Vaters treten und den Hof übernehmen. Etwas anderes aus seinem Inneren zum Ausdruck zu bringen, ist ihm verwehrt, da er so sein Grundbedürfnis nach Verbundenheit nicht mehr stillen könnte.

  • Ganz anders ein Kind oder ein Teenie, die sich tief und sicher an mindestens eine fürsorgliche erwachsene Person binden konnte: Wie anhand der Babuschka-Puppe am rechten Rand ersichtlich, verfügt diese Jugendliche über einen umfassenden Bindungsschoss, der es ihr erlaubt, alles was in ihr ist - ihr ganzes farbiges Potential - zum Ausdruck zu bringen. Da sie an ihre Eltern (oder eine andere erwachsene Person) auf der tiefsten Bindungsstufe - der Vertrautheit oder psychologischen Intimität - gebunden ist, verfügt sie über einen riesigen Raum um alle Zweifel, Träume und Gefühle zu erforschen und um verschiedene Rollen, Stile, Aktivitäten etc. auszuprobieren - ihr grundlegendstes Bedürfnis nach Verbundenheit bleibt immer gestillt, sie muss nicht dafür arbeiten.

Wahre Freiheit ist eine innere Freiheit

Das ist die Freiheit, die unsere Jugendlichen so dringend brauchen: Die Freiheit von Bindungsarbeit, die ihnen die Ruhe gibt, um mit sich selbst in Beziehung zu treten und zu erfühlen, was da in ihnen steckt, und die einhergeht mit der Sicherheit, dass nichts, aber auch gar nichts, was dabei zum Vorschein kommt, die Nähe und den Kontakt zu den Menschen, an die sie gebunden sind, gefährden kann.

Und ja, das ist eine überraschend einfache Antwort - aber eben auch keine «leichte»: Denn um unseren Kindern & Jugendlichen diesen Raum und diese Freiheit zu schenken, sind wir Erwachsenen gefragt - und zwar so richtig, mit Haut und Haaren und ganzem Herzen und vor allem genau dann, wenn es holpert und wenn wir selbst an unsere Grenzen kommen. Wir können das nicht oder nur ganz bedingt delegieren oder einkaufen oder substituieren - nein, wir sind gefragt, als authentische Eltern, Grosseltern, Lernbegleiter, Coaches etc., die im Bindungstanz den Lead übernehmen.

Dafür strecke ich mich jeden Tag als Mama und dafür setzen wir von bindungsbasiert.ch uns ein,

 

PS. Im Intensiv-Kurs «Teenager verstehen» sowie im Intensiv-Kurs «Lernen begleiten» gehen wir tiefer auf diese Inhalte ein.

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Nick, der kleine Igel