Zwei Lektionen aus der Welpenschule…

… die sich auch Eltern zu Herzen nehmen sollten - Oder: Wie kann es sein, dass wir bei Menschenkindern so blind sind?

In den vergangenen Monaten waren meine älteste Tochter und ich mit unserer Berner Sennenhündin regelmässig in der Hundeschule: Erst in der Welpengruppe und dann im sogenannten Basiskurs.

Und weil wir beide ziemlich hundevernarrt und gemeinsam für unseren Vierbeiner verantwortlich sind, haben wir auch die Theorie aus der Hundeschule «zäme kätscht» (gemeinsam gekaut resp. analysiert und besprochen).

Und immer wieder musste ich festhalten:

Wie schön wäre es, wenn das, was in der Hundeschule* schon fast mantra-mässig wiederholt wurde, auch für alle Kinder und für alle Eltern gelten und in allen Familien umgesetzt würde!

Hier sind die zwei Lektionen, die wir in den vergangenen Wochen wieder und wieder gehört haben, und die mir besonders am Herzen liegen. Denn die Parallelen zu dem, was ich in meinen Kursen erzähle, sind frappant.

Lektion #1: Spiel braucht Sicherheit (und Spiel ist das Zeichen für Wohlbefinden)

Die Welpenstunden fingen immer gleich all: Alle Welpenbesitzer:innen hocken auf kleinen Schemeln im Kreis und die 8-16 Wochen alten Welpen sitzen zwischen ihren Beinen. Sie werden nicht festgehalten, sondern einfach so beschränkt, dass sie nicht ausbüchsen können. Das nennt sich «in der Garage sein». Manche sind ziemlich zappelig & laut und brauchen Zeit, um sich zu beruhigen.

Gerade die Neulinge, die meist noch ziemlich unsicher & schüchtern auf den Platz kommen, sind aber erstmal ziemlich froh um diesen Schutzraum. Sie sind erst seit kurzem bei ihrer neuen Familie und meist ist die Welpenstunde das erste Zusammentreffen mit Hunden seit dem Auszug aus dem Geschwisternest.

Deshalb dürfen die Neulinge immer als erste die «Garage» verlassen und den Platz erkunden, jeder Welpe für sich alleine. Und ganz oft geschieht dann erstmal… gar nichts. Erst wenn Frauchen oder Herrchen dann aufsteht und einen Schritt vom Schemel weg macht, kommen auch die zurückhaltendsten Fellknäuel in Bewegung. Bei manchen bleibt der Radius um den Besitzer sehr klein, andere machen sich direkt auf, den Platz zu erkunden und manche getrauen sich auch, in Richtung der anderen Welpen zu gehen und vielleicht sogar mit etwas Abstand vor einer Garage zu schnuppern.

Ganz oft dauerte diese Sequenz der Hundeschule lange, sehr lange. Manche Welpen bekamen eine gute Viertelstunde Zeit, um anzukommen auf dem Platz und sich erstmal alles in Ruhe, im eigenen Tempo und mit dem nötigen Sicherheitsabstand anzusehen. (Für die anderen Welpen war das gleichzeitig eine tolle Übung, um trotz so vielen Reizen in die Ruhe zu kommen.)

Manche Neuankömmlinge liessen sich später in der Stunde von einfühlsamen älteren Welpen aus der Garagen-Sicherheit locken, andere brauchten die ganze erste Lektion um anzukommen und zu beobachten und es kam kaum zu Hundekontakt. In der zweiten Lektion änderte sich das dann meist schnell. Ich erinnere mich an eine Ridgeback-Welpin, die in der ersten Lektion sooo unendlich schüchtern, ja ängstlich war, und die ab Lektionen 3 eine der grössten Raufboldinnen wurde und bis heute geblieben ist.

«Um ins Spiel zu finden, braucht ein Welpe Sicherheit – und die machen wir kaputt, wenn wir sie drängen oder in bedrohlichen Situationen alleine lassen. Wir geben den Welpen deshalb so viel Zeit, wie sie brauchen, denn erst wenn ein Welpe ins Spiel findet, können wir sicher sein, dass ihm wohl ist.»

Das war das Mantra, das wir in jeder Welpenstunde immer wieder von neuem vermittelt bekommen haben…

… und ach, wie toll wäre es, wenn das auch auf all unseren Spielplätzen oder in all unseren Kitas, Spielgruppen, Kindergärten und Schulen, aber auch in Museen oder Zoos gelebt würde…?

  • Wenn Kinder so lange in der elterlichen Garage bleiben dürften, bis sie von sich aus aufbrechen? Und zwar ganz ehrlich – ohne dass irgendein impliziter Druck da wäre seitens der Mama («Nun hab dich nicht so, die anderen Kinder können das auch…») oder seitens des Kindergartens («Nach der ersten Woche sollte das eigentlich kein Problem mehr sein…»).

  • Wenn wir unseren Kindern auf Spielplätzen, in Museen oder Zoos einfach Zeit geben würden, damit sie alles in ihrem Tempo beobachten oder erkunden können? Also ohne «Schau mal hier…», «Probier’ mal die Rutschbahn – das schaffst du schon…» oder: «Wir sind doch nicht hier, damit du auf meinen Schoss sitzt und dir alles aus der Ferne anschaust…!»

  • Und was, wenn wir in dieser Zeit einfach präsent wären, ganz ohne Smartphone, und unsere Kinder einfach beobachten und uns an ihnen erfreuen würden? So wie wir das bei den Welpen taten, weil sich in diesen Momenten so vieles von ihrem Charakter und ihrem inneren Erleben zeigt? Und weil wir ihnen so für ihren Aufbruch in die Welt die wichtigste Zutat in ihren Abenteuer-Rucksack packen können:  Unsere Präsenz und die Sicherheit, dass wir da sind, wenn es nötig ist.

 

Lektion #2: Welpen brauchen in sozialen Settings unseren Support

So eine Welpenstunde ist eine herausfordernde Sache: Da treffen Schwergewichte auf Hunde aus der Leichtgewichtsklasse, angehende Sprint-Stars auf Schosshündchen oder gemütliche Hofhunde auf zukünftige Athleten mit enorm tiefer Reizschwelle. Kein Wunder, dass es da erstmal ein gegenseitiges Abtasten braucht – und kein Wunder, dass es dem einen mal zu viel wird oder der andere droht, unter die Räder zu kommen.  

In solchen Situationen war immer klar: Wir Besitzer sind gefragt! Und zwar indem wir die «Garage» anbieten und diese dann auch sichern – also stürmischen Welpen mit Worten oder durch Wegwischen signalisieren, dass das hier die Schutzzone unseres Vierbeiners ist. Denn: Welpen dürfen erst das Sozialverhalten lernen und innerlich gross werden, bevor wir es ihnen überlassen, unflätige Artgenossen in die Schranken zu weisen.

Dass wir das in der Welpenstunde noch und noch eingeübt haben, war nicht nur dem Gewusel auf dem Platz geschuldet, sondern auch das perfekte Training für den nächsten Spaziergang. Denn wie oft treffen wir da auf Hundebesitzer, die sich sicher sind, dass ihr Fido «en ganz en Liebe» ist und deshalb das Recht hat, unseren Welpen zu beschnüffeln oder zu umkreisen – natürlich ganz ohne die Fähigkeit, auch den Welpen zu lesen und zu erkennen, dass es ihm definitiv zu viel ist…?! - Auch hier im Alltag sind wir Hundebesitzer gefragt, indem wir dem Welpen Schutz in unserer Garage bieten, den Störenfried auf Distanz halten und den Besitzer auffordern, seinen Hund zurückzurufen.

Leider stösst das (noch) ganz oft auf viel Unverständnis und nicht selten habe ich ein Kopfschütteln oder ein «so lernt der Hund das doch nie, wenn sie ihn so verhätscheln» geerntet…

… und ja, auch diese Lektion lässt sich so gut auf Kinder übertragen!

Wie oft brauchen unser Kinder Eltern, die ihre Unreife kompensieren und für sie einspringen in Situationen, denen sie noch nicht gewachsen sind? Eltern, die sie richtig lesen und hinter die Kulissen schauen?

  • Beispielsweise wenn die Tante, die sich so freut, die Kinder mal wieder zu sehen, alle zur Begrüssung oder zum Abschied umarmen möchte - und wir gleichzeitig wissen, dass sich das nicht stimmig anfühlt für unsere Kinder. Es braucht ziemlich viel Rückgrat von einem Kind, um dem Erwachsenen dann die Hand hinzuhalten und sich der Umarmung zu entziehen! - Und ja, es braucht manchmal ziemlich viel Kreativität (und auch Rückgrat!) von unserer Seite, um in solchen Situationen auf der Seite unserer Kinder zu bleiben und gleichzeitig die Tante nicht vor den Kopf zu stossen.**

  • Oder bei einem Konflikt auf dem Spielplatz, der - ganz arttypisch für Kinder - nicht nach den Regeln der gewaltfreien Kommunikation gelöst wird und unser Kind entsprechend heillos überfordert (wie übrigens die anderen Kinder auch).

  • Oder wenn die netten Nachbarn regelmässig die Kinder ausfragen über die Schule, die Hobbies und überhaupt über alles, was es so zu erfahren gibt - ohne in ihrem Schwall von Nettigkeit zu realisieren, dass sich das Kind nicht wohl fühlt und im Nachhinein das Gefühl hat, zu viel Preis gegeben zu haben.

Auch in meinem Jahreskurs kommt das «Unreife erkennen und kompensieren» immer und immer wieder vor, denn Fakt ist: Unsere Kinder brauchen noch viel, viel länger, um zu reifen als Welpen.

Und gerade weil sie von Natur aus unreif sind, sind sie abhängig von uns und brauchen unseren Support (von Gesetzes wegen sogar sie bis 18 sind).

Und das wirft in mir folgende Fragen auf:

  • Wieso nur tun wir uns bei Kindern so schwer damit, ihnen die Zeit und die Garage zu geben, solange sie sie brauchen, wenn wir es bei Welpen doch als natürlich anschauen…?

  • Wieso nur halten wir es bei unseren Kindern für erstrebenswert, dass sie möglichst früh selbständig und unabhängig sind? Und warum fördern und fordern wir das bei Kindern so vehement - und bei Welpen nicht?

  • Wieso fällt es uns bei unseren Welpen so leicht, die Wichtigkeit unserer Rolle anzunehmen und wieso tun sich so viele Eltern so schwer, ins Alpha zu finden?

  • Wieso glauben wir den Stimmen (in uns), die sagen, dass man dies oder jenes mit x Jahren doch alleine können sollte? Und warum schämen wir uns dann fast für unsere Kinder, während wir es bei Hunden schaffen, hinzuschauen und anzunehmen, was ist - egal wie viele Monate der Welpe oder Junghund alt ist…?

  • Und wie kann es sein, dass wir all das Wissen über Emotionen, Entwicklung, Spiel und Bindung in Bezug auf unsere Hunde so selbstverständlich vermittelt bekommen und ohne grosse innere Widerstände anwenden, während es in so vielen Kitas, Kindergärten, Schulen oder auch Elternhäusern so bitterlich fehlt…

Bei unseren Welpen vertrauen wir darauf, dass sie alles mitbringen, um soziale Signale lesen und den Umgang mit anderen Hunden – auch mit unflätigen – zu lernen. Was sie hierfür von uns brauchen ist genügend Schutz und viel Raum für echtes Spiel.

Und selbiges gilt auch für unsere Kinder.

 
 

* Mir ist bewusst, dass es auch heute noch ganz unterschiedliche Hundeschulen und Welpengruppen gibt – auch solche, die noch nach völlig veralteten Methoden und Paradigmen arbeiten. Aber aus meiner Hundeerfahrung der letzten Jahrzehnte hat sich doch vieles in eine artgerechte Richtung entwickelt. Und: Natürlich lohnt es sich ganz unbedingt, bereits vor der Ankunft des Welpen in verschiedene Schulen reinzuschnuppern…!

** Mir half und hilft es da jeweils, die Situation mit meinen Kindern kurz vorzubesprechen und vielleicht etwas abzumachen. So wissen sie, dass ich in der Situation dann präsent sein und sie «lese» werde, weil vielleicht fühlt sich die Umarmung zum Abschied dann ja richtig an… Und ansonsten kompensiere ich die Unreife mit Sätzen wie diesen: «Komm, wir geben Tante Klara noch die Hand zum Abschied» oder auch «Und dann noch ein richtiger Handschlag für Tante Klara zum Abschied…! High Five! Danke für deinen Besuch!»

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