Präsenz statt Päckchen

Was wirklich nährt liegt nicht unter dem Weihnachtsbaum – Oder: Warum unsere Gegenwart das einzig wahre Geschenk ist

Es ist unverkennbar: Weihnachten rückt näher.

Die Päckchen des Adventskalenders werden weniger, so langsam aber sicher sind auch die letzten Weihnachts-Guetzli gebacken, die letzten Geschenke gebastelt und verschickt, die Festtags-Menüs stehen fest und der letzte grosse Einkauf in der Agenda ist eingeplant….

… und vielleicht spürst auch du diesen feinen Druck in dir: “Habe ich an alles gedacht? Wird es stimmig & friedlich nach diesen turbulenten Wochen? Werden die Kinderaugen leuchten – und die von uns Erwachsenen auch?”

Wir leben in einer Welt, die uns glauben machen will, dass Liebe sich in Materie messen lässt – oder in der Perfektion unserer Taten. Wir versuchen, unsere Zuneigung in bunte Päckli zu packen oder in die aufwendigsten Adventskalender, in der Hoffnung, dass der Zauber des Augenblicks möglichst lange anhält. Wir verwandeln unsere Küche in eine Weihnachtsbäckerei und planen das Festessen bis ins letzte Detail, weil wir meinen, so zu vermitteln oder vielleicht auch zu beweisen, wie sehr wir … ja, was? Wie sehr wir unsere Liebsten wertschätzen oder lieben?

Versteh mich nicht falsch: Ja, Liebe geht durch den Magen, absolut! Und auch ich möchte den Duft von Guetzli, Lebkuchen oder Apfelpunsch im Advent auf keinen Fall vermissen – nicht nur wegen dem Geruch, sondern weil in Selbstgemachtem immer auch Wertschätzung liegt.

Doch das alles macht nicht den Kern von Weihnachten aus.

Denn oft bleibt trotz all dem Materiellen und trotz all unsere Taten, trotz all den Päckli und Dekorationen, trotz all den Köstlichkeiten oder kreativen Geschenk-Ideen, eine Leere in uns zurück. Eine Leere, die sich in Unruhe oder Unwohlsein zeigt und bei unseren Kindern zu nicht selten zu Zankereien zwischen Geschwistern führt.

Kann es sein, dass diese Leere durch einen Hunger verursacht wird, der weder durch Materie noch durch Perfektionismus gestillt werden kann, schlicht weil unsere Herzen diese Währungen nicht kennen?

 

Der Trugschluss der materiellen und “tätigen” Fülle

Das tiefste und grundlegendste Bedürfnis unserer Kinder ist es, sich verankert zu fühlen. Sie brauchen die Gewissheit, in unseren Leben und in unseren Herzen einen sicheren, unerschütterlichen Platz zu haben. Sie wollen über die Sinne verbunden sein, dazugehören, wertgeschätzt, gesehen und geliebt werden – so, wie sie sind, und mit allem, was sie mitbringen. - Wenn dieses Bedürfnis nach Verbundenheit nicht gesättigt ist, fängt ihr Bindungshunger an zu knurren.

Das Tückische ist, dass uns Werbung und Social Media glauben machen, dass wir diesen Hunger durch Dinge oder durch Taten und Aktivitäten stillen können. Damit lässt sich unglaublich gut und unglaublich viel Geld verdienen, und doch ist all das nur Junk-Food.

All die Dinge, all das „Machen“ kann keine echte Verbundenheit herstellen. Ein aufwendiges Fest, ein geschmückter, von Geschenken umringter Baum, ist ein wunderbarer Rahmen, aber all das ist nicht die Nahrung selbst.

Es sättigt nicht das tiefe Bedürfnis, bedingungslos willkommen zu sein.

Das einzige Geschenk, das wirklich nährt, ist die Einladung in unsere ungeteilte Gegenwart, in unsere Präsenz.

 

Was bedeutet eigentlich „Präsenz“?

Präsenz ist so viel mehr als die blosse physische Anwesenheit oder das Absolvieren von Festtags-Ritualen. Und unsere Kinder haben eine unglaubliche Antenne für Präsenz, auch wenn sie es vielleicht noch nicht formulieren können: Sie spüren, dass wir zwar körperlich da, aber nicht wirklich verbunden sind – weder mit ihnen, noch mit uns selber.

Wahre Präsenz ist die Entscheidung, für einen Augenblick alle To-Do-Listen, alles Organisatorische, alle Pläne und alle Erwartungen an ein perfektes Fest los zu lassen und einfach zu sein.

Es braucht diese Präsenz in uns, um unseren Kindern vermitteln zu können:

«Ich sehe dich und ich möchte gerade nirgendwo lieber sein als hier mit dir. Du bist ein Geschenk in meinem Leben und das geniesse ich gerade».

 

 Warum uns dieses Geschenk oft so schwerfällt

Ganz ehrlich: Wirkliche Präsenz ist eine der grössten Herausforderungen unserer Zeit. Und die Kräfte, die uns aus dem Moment reissen möchten, sind enorm (und es wird enorm viel Geld damit umgesetzt). Vielleicht hilft dir zu verstehen, dass ihnen Folgendes in die Hände spielt:

  • Unsere eigene Verletzlichkeit: Um präsent zu sein, müssen wir unsere eigenen Schutzpanzer ablegen und weich werden. Präsent sein heisst fühlen und wahrnehmen, was ist. Und das heisst, dass wir dann nicht nur unser Gegenüber mit all seinen Emotionen und Bedürftigkeiten spüren, sondern auch uns selbst: Unsere Erschöpfung vielleicht, unsere Unruhe, die inneren Zweifel oder auch eine gewisse Leere… Und nichts ist in solchen Situationen verlockender, als aus dem Moment zu flüchten und sich in Ablenkung oder in Geschäftigkeit zu flüchten.

  • Unser eigene Prägung: Ich kenne ganz wenige Erwachsene, die als Kind geliebt wurden, weil sie waren, wer sie waren, einfach so – ohne Leistungsdruck und ohne Einschränkung. Bei uns anderen ist die Chance gross, dass sich irgendwo in uns drin in hungriges Kind nach Bindungsnahrung sehnt – und dass dieses Kind gelernt hat, dass es Verbundenheit im Austausch mit Leistung gibt. Es ist dieses hungrige Kind, das uns einflüstert: «Bastle einen tollen Adventskalender, gestalte das Zuhause so weihnachtlich wie möglich und organisiere ein unvergessliches Fest – dann werden sie dich lieben!» - Mit solch hungrigen inneren Kindern fällt es uns schwer darauf zu vertrauen, dass unsere Kinder genau das am meisten braucht, was wir bereits sind – nicht das, was wir alles leisten.

 

Wie wir die Einladung im Alltag aussprechen

Dieses „einzig wahre Geschenk“ zu überreichen, bedeutet also nicht, dass wir oder unser Weihnachtsfest, das Essen oder die Geschenke perfekt sein müssen. Es bedeutet oft sogar, die Ansprüche an Perfektion und an alles, was auch noch möglich wäre, ein Stück weit loszulassen, um Platz für das eigentliche Sein zu schaffen.

  • „Sammeln, sammeln, sammeln“: Bevor du im Trubel etwas von deinem Kind willst, versuche, es erst einmal zu sammeln. Ein kurzer, warmer Blickkontakt beim Guetzli-Backen, ein Lächeln zwischendurch, eine sanfte Hand auf der Schulter. Diese Momente vermitteln eine Einladung und bauen das Fundament, auf dem dein Kind sich sicher fühlt.

  • Inseln der Absichtslosigkeit: Schenke deinem Kind – und dir selbst – Momente, in denen du absolut nichts willst. Kein Bastelergebnis, keinen gedeckten Tisch, kein gar nichts. Gönn dir eine Pause – und sei sie auch noch so kurz. Nimm einfach an, was ist und was sich entwickelt. Vielleicht ist da «nur» Ruhe, vielleicht findet euch auch Spiel – in Form von Kuscheln, gemeinsamem Stauen oder … . In solchen Pausen wirst du zum sichere Hafen für dein Kind.

  • Sich selbst zurückholen: Wenn du merkst, dass du dich im „Tun“ verlierst, sei grossherzig mit dir. Atme tief durch, spüre deine Füsse auf dem Boden und erlaube dir wahrzunehmen und zu fühlen, was gerade ist. Und versichere dir:

Dein Kind braucht präsente und authentische Eltern, keine perfekten Gastgeber oder Organisatoren.

 

Ein Geschenk, das Früchte trägt

Wenn wir unseren Kindern die Einladung unsere Präsenz schenken, schenken wir ihnen viel mehr als «nur» einen Moment: Damit einher geht das tiefe, unerschütterliche Wissen, dass sie ein Geschenk sind, für uns und für die Welt, und dass sie es wert sind, gesehen und geliebt zu werden. Dass sie nicht „funktionieren“ müssen, damit ihr grundlegendstes Bedürfnis nach Verbundenheit gestillt wird und dass sie für unsere Liebe nicht arbeiten müssen, sondern in ihr ruhen dürfen*.

 

In diesem Sinne wünsche ich dir (und mir!) für die letzten Tage des Jahres den Mut zum Loslassen und zum “Unperfektionismus” (was für ein Wort!).

 

Ein kleiner Reflexionsimpuls für dich: Wann hast du das letzte Mal gespürt, dass du und dein Kind im selben Augenblick ganz bei euch „gelandet“ seid? Was hat diesen Moment möglich gemacht?

 

Möchtest du erfahren, wie du die Verbindung auch durch die Stürme der Pubertät, während Wutausbrüchen und inmitten des grössten Geschwisterstreits aufrecht erhältst? Dann schau gerne rein in meine aktuellen Kurse:

 

* Zitat von Gordon Neufeld

Weiter
Weiter

Zwei Lektionen aus der Welpenschule…